Carmine Auricchio, Pia Deppermann, Sophie Krause, Luca Piscopo feat. Haley Morris-Cafiero
Reverse Gazes ist die Erstausgabe der Ausstellungsreihe JOINTS, kuratiert von Eva Leitolf und Giulia Cordin (Studio Image der Fakultät für Design und Künste | unibz) und Jeva Griskjane (Foto Forum). Die aktuelle Ausstellung präsentiert Fotografien der renommierten US-Künstlerin Haley Morris-Cafiero sowie multimediale Arbeiten der jungen Künstler*innen Carmine Auricchio, Pia Deppermann, Sophie Krause und Luca Piscopo. Reverse Gazes hinterfragt die Politiken des Blicks und zeigt hybride und transdisziplinäre Praktiken von Künstler*innen verschiedener Generationen und sozialer Hintergründe zum Thema des umgekehrten Blicks.
Die Gruppenausstellung spiegelt gegenwärtige Wertkonflikte des patriarchalischen Systems im technologisierten Zeitalter medialer Manipulation wider und eröffnet neue Perspektiven auf alternative Lebensentwürfe einer gleichberechtigten und unabhängigeren Koexistenz.
Wer bin ich unter dem Blick der Anderen? Wie kann ich unter der allgegenwärtigen Kontrolle des Blicks selbstbestimmt sein?
Die Künstler*innen ergründen die Widersprüche einer neokapitalistischen, patriarchal geprägten Gesellschaft, welche narzisstische Verhaltensweisen begünstigt, und setzen sich dabei mit Themen wie Voyeurismus und Sinnesverlust, Kommunikation und Angst, Machtdominanz und Machtlosigkeit, Konsum und Manipulation, Körperlichkeit und Gewalt auseinander. In unserer von Social Media geprägten Zeit avancieren Selbstbetrachtung, Selbstdarstellung und Selbstoptimierung zu vorherrschenden Begierden und Kommunikationsinhalten. Der Körper wird gleichzeitig zur Zielscheibe und zur Waffe, er konsumiert und kann konsumiert werden. Globalisierung und Digitalisierung transformieren den sozialen Raum zu einer Bühne des voyeuristischen Schauspiels, einem prekären Ort, der Not, Wünsche, Ängste und Fetische exponiert. Im traditionellen Rollenverständnis immer noch gefangen und in neokapitalistischen Lebensentwürfen fixiert, manipulieren hier die Einflussreichen die
Marginalisierten, getrieben von absurden, lange eingeübten Vorstellungen eines Daseins, das in einer progressiven Zukunft nicht mehr denkbar zu sein scheint.
In The Bully Pulpit untersucht Haley Morris-Cafiero das soziale Phänomen des Cybermobbings anhand der öffentlichen Profile von Menschen, die versucht haben, die Künstlerin im Netz zu belästigen. Online gefundene Fotos der Täter*innen stellt sie in ihren Bildern mit Perücken, Kleidung und einfachen Prothesen nach und überlagert diese Parodien mit Transkripten der Mobbing-Kommentare, fast so, als würde sie sie „sub-tweeten“.
Das komplexe Geflecht aus Familiendynamiken, patriarchalischen Strukturen und deren bleibenden Auswirkungen auf nachfolgende Generationen bildet den Kern von Carmine Auricchios Padre Padrone (Figli di Adamo). Indem der Künstler die verflochtenen Fäden seiner eigenen Familie aufdeckt, deutet er an, wie vertraute, über Generationen hinweg aufrechterhaltene Machtdynamiken tiefe Narben bei allen Familienmitgliedern hinterlassen.
In Strukturelle Beschaffenheiten II beschäftigt sich Pia Deppermann mit Hierarchien und Machtstrukturen, die sich durch die ständige Reproduktion stereotyper Darstellungen von Geschlechterverhältnissen in deutschen Schulbüchern verfestigen. Mit Flyern lud die Künstlerin zu Castings für Neuverfilmungen bekannter deutscher Schullektüre (z. B. Homo Faber von Max Frisch) ein. Die während dieser Casting-Situationen entstandene Videoarbeit zeigt Männer unterschiedlicher Generationen, die Deppermann mit von ihr ausgewählten Textpassagen konfrontiert. Die Protagonisten des Videos lesen, interpretieren und kommentieren die Texte. Dadurch entstehen überraschende
Momente des Nachdenkens und der Bestürzung.
Sophie Krauses Videoarbeit Le Bambole thematisiert den männlichen Blick der Filmindustrie als Beispiel patriarchaler Propaganda. Im Format eines Vorsprechens gelingt es Krause, ihre ganz persönlichen Reflexionen mit den Erfahrungen vieler anderer Frauen zu verbinden. Ihre Arbeit thematisiert, inwieweit Frauen den männlichen Blick verinnerlichen und wie sie die Kontrolle zurückgewinnen können.
In Candy Oscuro: Apocalypse & Genesis verlegt Luca Piscopo das Thema des Blicks an einen sehr intimen Ort: die Familie. Während er in der Pandemie bei seinen Eltern festsaß, lud er seine Mutter ein, seine Fotografin zu werden. Er ließ sich von ihr in zweideutigen Posen fotografieren, während er ihre Outfits und ihr Make-up trug und auf diese Weise ihrer beiden Vorstellungen von männlicher und weiblicher Identität in Frage stellte. Während sie gemeinsam Candy zum Leben erweckten und Lucas Vorstellungen über Geschlecht und Identität erforschten, entdeckten sie neue Facetten voneinander.
Reverse Gazes richtet den kritischen Gegenblick auf soziale Zusammenhänge wie Social Media, Familie, Schule oder Unterhaltungsindustrie und deckt diese als Konstrukte einer teilweise immer noch primitiven, gewalttätigen und narzisstisch-fetischistischen westlichen Kulturlandschaft auf, in der Freiheit, Gerechtigkeit und bedingungslose Nächstenliebe als utopische Versprechen erscheinen. Doch lädt Reverse Gazes auch dazu ein, alternative Wege zur Erkenntnis, Revision und Akzeptanz des Andersseins zu erkunden, um den zwischenmenschlichen Dynamiken und dem gemeinschaftlichen Miteinander mehr Würde, Zuversicht und Gerechtigkeit zu verleihen.